Fast jede mittelalterliche Festung soll mit einer Stadt oder einem abgelegenen Ort durch einen unterirdischen Gang verbunden sein. Diese Vorstellung beflügelt seit Jahrhunderten die Fantasie. Sie ist Stoff für Sagen, Romane und bis heute Gesprächsstoff bei Burgführungen. Auch in Coburg hält sich bis heute die Erzählung, ein geheimer Tunnel führe von der Hofapotheke oder von Schloss Ehrenburg hinauf zur Veste. Doch was steckt hinter diesem Gerücht?
Ein möglicher Ursprung der Coburger Geheimgang-Erzählung liegt im Jahr 1733. Damals erwähnte der Festungskommandant, Adam von Hanstein, in einem Brief, er sei als junger Page gemeinsam mit Herzog Albrecht mehrmals durch einen solchen Gang gegangen – den er jedoch später selbst nicht mehr wiederfinden konnte.
Diese Behauptung kam zu dem Zeitpunkt auf, als sich Hanstein bemühte, finanzielle Mittel für die Sanierung der Burg einzufordern. Seine Anträge waren jedoch erfolglos geblieben. Durch den Polnischen Thronfolgekrieg, der auch deutsche Territorien bedrohte, rückte aber die Veste plötzlich wieder in das militärische Interesse. Ihre Funktion als möglicher Zufluchtsort für Angehörige des Herzogshauses war bereits 1680 festgelegt worden.
Ein Geheimgang, so könnte man vermuten, hätte im Kriegsfall einen Rückzugsweg von Schloss Ehrenburg zur Veste ermöglicht. Es erscheint daher denkbar, dass Hanstein das Gerücht gezielt einsetzte, um die strategische Bedeutung der Burg zu unterstreichen und damit seine Chancen auf Fördergelder zu erhöhen.
Ob er seine Erinnerung romantisierte, ein Gerücht verbreitete oder bewusst diese Geschichte nutzte, lässt sich heute nicht mehr klären. Fakt ist: Schon 1733 wurde nach dem Gang gesucht – ohne Erfolg. Im Jahr 1843, versuchten Historiker und Bauleute erneut, Hinweise auf eine unterirdische Verbindung zu finden. Aber weder archäologische Grabungen noch bauliche Untersuchungen konnten Belege dafür liefern. In neuerer Zeit kamen moderne Methoden zum Einsatz, darunter Bodenradar. Auch hier blieb das Ergebnis eindeutig: Es gab keinen Nachweis für einen Geheimgang.
Ganz aus der Luft gegriffen ist die Vorstellung unterirdischer Gänge auf der Veste aber nicht. Im Inneren der Burg existiert tatsächlich ein unterirdisches System an Gängen: Schon im 16. Jahrhundert wurde ein Verbindungsgang von einer unterirdischen Brunnenkammer auf der Nordseite der Veste in das Innere der Burg angelegt. In der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs soll dieser Weg sogar von schwedischen Truppen als potenzieller Zugang zur Veste ins Visier genommen worden sein. Anfang des 20. Jahrhunderts ließ Herzog Carl Eduard diese Verbindung jedoch vermauern.
Warum aber halten sich solche Gerüchte über Geheimgänge so hartnäckig, auch ohne Beweis?
Zum einen übt das Bild des Geheimgangs eine starke Faszination aus: Er steht für Flucht, Sicherheit, Verschwörung – und damit für Spannung und Geheimnis. In vielen Fällen entstand das Motiv in der Romantik, als man mittelalterliche Burgen neu entdeckte und mit Mythen auflud. Auch die Heimatliteratur des 19. Jahrhunderts trug viel dazu bei, historische Stätten mit Legenden zu verbinden, um Identität und Stolz zu stiften. Zum anderen sind die baulichen Strukturen wie Gewölbe oder Keller alter Burgen oft für solche Geschichten einladend. Sie können leicht zur Basis für Spekulationen werden. Besonders, wenn ihr ursprünglicher Zweck in Vergessenheit geraten ist.
Der Fall Coburg zeigt, wie historische Gerüchte entstehen können, wie sie im Lauf der Zeit weitergetragen, umgedeutet und ausgeschmückt werden. Dass der Kommandant der Veste im 18. Jahrhundert möglicherweise selbst zur Verbreitung eines solchen Gerüchts beitrug, verleiht der Geschichte zusätzliche Tiefe. Doch trotz der anhaltenden Faszination gilt heute: Es gibt keine Hinweise auf einen geheimen Gang zwischen Stadt und Veste.