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Biographie
Berta Drattler kam am 15. Februar 1881 im galizischen Nowy Żmigród (Österreich-Ungarn, heute Polen) zur Welt.[1] Über ihre Eltern, dem Ehepaar Rosner, und etwaige Geschwister ist zurzeit nichts bekannt.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts siedelten sich in Coburg 14 Familien aus Ostmitteleuropa an, die Teil einer größeren Migrationswelle von Juden waren, die aus dem Russischen Kaiserreich und anderen Teilen Ost- und Mitteleuropas flüchteten. Unter den Migranten befanden sich auch Berta Drattler.[2] Diese Migration war von verschiedenen Faktoren geprägt. Zum einen trugen die Pogrome, insbesondere in den 1880er Jahren in Russland, dazu bei, dass viele Juden aus den östlichen Gebieten fliehen mussten. Zum anderen waren auch wirtschaftliche Gründe, wie die begrenzten Arbeitsmöglichkeiten und die Armut in bestimmten Regionen des Zarenreichs, ein wichtiger Treiber dieser Migration. Viele dieser Migranten stammten aus ländlichen Gebieten, wo sie durch die schlechten Lebensbedingungen und die sozialen Restriktionen der Zarenregierung zur Abwanderung gezwungen wurden.
Die Ankunft dieser Migranten brachte Veränderungen in die religiöse und kulturelle Landschaft in Franken. Die Zuwanderer brachten eine eigene religiöse Praxis, die sich zum Teil von den in Franken ansässigen jüdischen Gemeinden unterschied. Diese Unterschiede wurden von Teilen der christlichen Bevölkerung häufig als fremd oder unvereinbar mit den lokalen Traditionen wahrgenommen, was den Alltagsantisemitismus verstärkte, der in vielen Teilen Europas weit verbreitet war. In Coburg gab es jedoch keine systematische öffentliche Debatte über die „Judenfrage“ oder das „Judenbild“, wie sie in anderen deutschen Städten zu dieser Zeit häufig geführt wurde. Dennoch lässt sich vermuten, dass solche Denkmuster in Teilen der Bevölkerung vorhanden waren, auch wenn sie nicht immer in offenen Diskussionen oder schriftlichen Quellen dokumentiert wurden.[3]
Heirat
Etwa um 1901 heirate Berta den Kaufmann Simche Drattler. Er war ebenfalls wurde und kam am 31. August 1879 im galizischen Bohorodtschany (Österreich-Ungarn, heute Ukraine) zur Welt.[5] Das Ehepaar hatte sechs Kinder, von denen drei bereits im Kindesalter starben: Israel (geboren im Dezember 1905 und am 5. August 1906 verstorben)[6], Simon (geboren am 18. Januar 1907 und am 16. Juni 1911 gestorben),[7] Minna (geboren am 5. Oktober 1908)[8], einen namenlosen Sohn, der 1916 kurz nach der Geburt starb[v], Lina (geboren am 27. Februar 1918)[9] und Frieda (geboren am 26. Mai 1920)[10]. Das Ehepaar Drattler lebte seit 1902 in Coburg, wo Simche Drattler ein Handelsunternehmen eröffnete.[11] Seit 1911 befand sich dieses Geschäft zusammen mit der Wohnung der Drattlers m Haus Ketschengasse 26.[12]
Wachsender Antisemitismus
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte sich das Leben für Juden in Deutschland und damit auch in Coburg schrittweise verändert. Viele Menschen machten sie für die Kriegsniederlage und das daraus resultierende wirtschaftliche und politische Chaos verantwortlich. Ab 1919 wurden zunehmend Flugblätter, Zeitungsartikel, Plakate und Vorträge verbreitet, die gezielt gegen die vermeintlichen Schuldigen dieser Misere hetzten. Zusammen mit dem frühen Aufstieg des Nationalsozialismus in der Vestestadt bildete dies die Basis für die späteren Gewalttaten gegen die jüdische Bevölkerung. Mit der Machtübernahme der Coburger Nationalsozialisten im Jahr 1929 begann eine erste Welle der Gewalt: Die Zerstörung jüdischen Eigentums und körperliche Angriffe auf einzelne jüdische Bürger nahmen drastisch zu. Die jüdische Gemeinschaft versuchte sich in dieser Zeit mit Anzeigen und Gerichtsprozessen zu wehren, doch ihre Bemühungen blieben erfolglos. Unter dem Eindruck dieser Entwicklung verließen viele Juden die Vestestadt, nachdem bis 1925 ein Anstieg der jüdischen Einwohnerzahlen zu verzeichnen war. Umfasste die jüdische Gemeinde 1925 noch 316 Personen, so sank deren Zahl bis 1933 auf 233 ab.[13] Über antisemitische Übergriffe auf die Familie Drattler ist in dieser Zeit nichts bekannt.
NS-Zeit
Auch nach der Machtübertragung an Hitler im Januar 1933 blieben die Drattlers zunächst von direkten Repressionen verschont. Zwar fanden bereits ab 1933 erste antisemitische Maßnahmen wie der landesweite Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April oder das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ statt, doch wurde ihr Geschäft in dieser frühen Phase offenbar nicht unmittelbar boykottiert: Dennoch waren er und seine Familie den zunehmend verschärften antijüdischen Gesetzen des NS-Staates ausgesetzt. Diese verschärften sich mit den Nürnberger Rassegesetzen von 1935, welche jüdische Menschen systematisch entrechteten. Die antisemitische Verfolgung eskalierte spätestens 1938 mit den Novemberpogromen. In den Jahren der Verfolgung entschieden sich Bertas Töchter zur Emigration. Minna Drattler floh im Juni 1937 in die Vereinigten Staaten[14], ihre Schwestern Frieda und Lina folgten ihr im Juli 1938.[15]
Ein einschneidendes Ereignis für die Familie war die Reichspogromnacht vom 9. November 1938. Im Zuge des Pogroms wurde die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ am 12. November 1938 erlassen, die allen jüdischen Unternehmern das Führen eines Gewerbes untersagte.[16] Simche Drattler musste daraufhin sein Handelsunternehmen zum 31. Dezember 1938 schließen.[17] Damit wurde dem Paar die wirtschaftliche Existenzgrundlage entzogen.
Eine weitere Folge der Pogrome war eine öffentliche Demütigung: Berta Drattler, ihr Ehemann Simche sowie weitere jüdische Bürger wurden am 10. November 1938 durch die Straßen Coburgs getrieben und auf dem Markt an den Pranger gestellt.[18] Während Frauen und Kinder anschließend nach Hause zurückkehren durften, wurden Simche Drattler und die anderen jüdischen Männer in die alte Angerturnhalle gebracht. Mindestens 16 von ihnen sollten in das Konzentrationslager Dachau deportiert werden. Da Dachau zu diesem Zeitpunkt jedoch überfüllt war, wurden sie stattdessen in das Gefängnis nach Hof an der Saale gebracht. Ob Simche Drattler unter den Inhaftierten war, ist nicht sicher belegt.[19]
Kurz darauf verlor das Ehepaar seine Wohnung in der Ketschengasse. Ab September 1939 fanden sie eine neue Unterkunft im Haus des jüdischen Kaufmanns Eduard Plaut im Steinweg Nr. 15.[20] Die Lebensumstände verschlechterten sich jedoch zunehmend, da das Gebäude als sogenanntes „Judenhaus“ genutzt wurde. Solche Häuser dienten den Nationalsozialisten dazu, jüdische Menschen zu isolieren, zu überwachen und für spätere Deportationen zu erfassen. Sie waren ein entscheidender Schritt zur vollkommenen Entrechtung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung.
In dieser Zeit wurde Berta Drattler zur Zwangsarbeit bei der Porzellanfabriken Griesbach und Creidlitz verpflichtet, ein Schicksal, das viele jüdische Frauen ab 1938 ereilte.[21] Ihr Ehemann Simche, der an Diabetes und einer Herzerkrankung litt, starb am 18. Juni 1940 im Alter von 60 Jahren.[22] Nach seinem Tod war Berta Drattler vollkommen auf sich allein gestellt und weiterhin staatlicher Verfolgung ausgesetzt.
Deportation und Ermordung
Am 27. November 1941 wurde Berta Drattler zusammen mit 24 weiteren jüdischen Bürgern aus Coburg deportiert oder, wie es in der damaligen Tarnsprache der Nationalsozialisten hieß, "evakuriert".[23] Diese Deportation fand im Rahmen der zweiten Phase des Holocausts statt, die als „Deportations- und Vernichtungsphase“ bezeichnet wird. Diese Phase begann 1941, nachdem die nationalsozialistische Führung die systematische Vernichtung der europäischen Juden beschlossen hatte. Eine gesetzliche Grundlage dafür war das am 23. Oktober 1941 erlassene Ausreiseverbot für Juden aus dem Deutschen Reich. Ergänzt wurde dies durch eine Anordnung vom 4. November 1941, die vorsah, Juden in den folgenden Monaten in die von Deutschland besetzten Ostgebiete abzuschieben.[24]
Berta Drattler wurden über Nürnberg nach Riga transportiert. Für die Deportation stellte man ihm Fahrtkosten in Höhe von 60 Reichsmark in Rechnung. Die Bedingungen während der Fahrt waren unmenschlich: Die Deportierten wurden in überfüllten, unbeheizten Waggons ohne ausreichende Versorgung untergebracht. Während der gesamten Reise erhielten die 1010 Menschen an Bord nur zweimal Wasser.[25 ]Am 2. Dezember 1941 erreichte der Zug das Lager Jungfernhof bei Riga.[26]
Das Lager befand sich auf einem großen landwirtschaftlichen Anwesen, das jedoch völlig ungeeignet war, Tausende von Menschen unterzubringen. Bis Januar 1942 stieg die Zahl der Gefangenen dort auf etwa 4000 Personen. Sie mussten in Scheunen und Ställen übernachten. Die wenigen Gebäude waren unbeheizt und in einem schlechten baulichen Zustand, was dazu führte, dass viele der Inhaftierten schwer erkrankten und starben. Im Winter 1941/42 kamen in Jungfernhof zwischen 800 und 900 Menschen ums Leben – durch Erfrierungen, Unterernährung oder Seuchen. Eine medizinische Versorgung gab es kaum. Ab Januar 1942 wurden kranke Gefangene erschossen und in Massengräbern verscharrt.[27]
Nach der Ankunft in Jungfernhof verliert sich die Spur von Berta Drattler. Wann sie starb, lässt sich anhand fehlender Unterlagen nicht mehr ermitteln. Laut Aussage von Lotte Bernstein, der einzigen Überlebende der Coburger Deportation, sind die meisten der Verschleppten im Februar 1942 erfroren.[28] Berta Drattlers Vermögen, das 242,35 Reichsmark (heutiger Wert: etwa 1200 Euro) umfasste, fiel aufgrund einer Weisung des Reichsfinanzministeriums vom November 1941 unter dem Decknamen „Aktion 3“ weitgehend dem Deutschen Reich zu. Es bestand aus ihrer Wohnungseinrichtung und Schmelzsilber.[29] Die Möbel wurden schließlich unter der Federführung des Coburger Wohlfahrtsamtes versteigert und so an die Bevölkerung abgegeben, welche von der jüdischen Herkunft der Gegenstände wusste.[30]
[1] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Drattler, Simche und Berta.
[2] Christian Boseckert, Migration und Akkulturation der Coburger Juden im 19. Jahrhundert, in: Gerhard Amend / Christian Boseckert / Gert Melville (Hrsg.), Im Fokus: Juden und Coburg. Rückkehr, Ausgrenzung und Integration im 19. Jahrhundert (Schriftenreihe der Historischen Gesellschaft Coburg 31), Coburg 2021, S. 117f.
[3] Ebd.
[4] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Drattler, Simche und Berta.
[5] "Regierungs-Blatt für das Herzogtum Coburg" vom 18.08.1906, S. 608.
[6] "Coburger Zeitung" vom 03.02.1907 und 07.07.1911.
[7] "Regierungs-Blatt für das Herzogtum Coburg" vom 21.10.1908, S. 359.
[8] "Coburger Zeitung" vom 10.12.1916.
[9] "Coburger Zeitung" vom 10.03.1918.
[10] "Coburger Regierungs-Blatt" vom 02.06.1920, S. 349.
[11] Staatsarchiv Coburg, Amtsgericht Coburg, 56.666, fol. 6; Siehe auch: Adreß-Buch für die Herzogliche Residenzstadt Coburg 1905, Coburg 1905, S. 15.
[12] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Drattler, Simche und Berta.
[13] Zusammenfassung bei Hubert Fromm, Die Coburger Juden. Geschichte und Schicksal, Coburg ²2001.
[14] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Drattler, Minna.
[15] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Drattler, Frieda; Siehe auch: Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei Drattler, Lina.
[16] RGBl. 1938 I, S. 1580.
[17] Eva Karl, „Coburg voran!“ Mechanismen der Macht – Herrschen und Leben in der „ersten nationalsozialistischen Stadt Deutschlands, Regensburg 2025, S. 778.
[18] Fromm, Coburger Juden, S. 94-97.
[19] Die Beschreibung dieses Ereignisses bei Fromm, S. 95ff.
[20] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Drattler, Simche und Berta.
[21] Fromm, Coburger Juden, S. 123.
[22] Sterbeurkunde Simche Drattler, in: Arolsen Archives (https://collections.arolsen-archives.org/en/document/76732086 (Öffnet in einem neuen Tab)), aufgerufen 14.03.2025.
[23] Fromm, Coburger Juden, S. 130f.
[24] Joseph Walk (Hrsg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, Heidelberg ²1996, S. 353, 355.
[25] Fromm, Coburger Juden, S. 130f.; Statistik und Deportation der jüdischen Bevölkerung aus dem Deutschen Reich. Nürnberg – Würzburg nach Riga. Abfahrtsdatum 29.11.41, Deportierte 1010 (https://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_bay_411129.html (Öffnet in einem neuen Tab)), aufgerufen 12.07.2024.
[26] Ekkehard Hübschmann, Die Deportation von Juden aus Franken nach Riga, in: Frankenland. Zeitschrift für Fränkische Landeskunde und Kulturpflege 56 (2004), S. 344.
[27] Andrej Angrick / Peter Klein, Die „Endlösung“ in Riga. Ausbeutung und Vernichtung 1941-1944, Darmstadt 2006, S. 217, 220; Siehe auch: Wolfgang Scheffler, Das Schicksal der in die baltischen Staaten deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden 1941-1945. Ein historischer Überblick, Bd. 1, München 2003, S. 10.
[28] Staatsarchiv Coburg, Amtsgericht Coburg 36658, fol. 1.
[29] Staatsarchiv Coburg, Finanzamt Coburg 248, Drattler, Berta.
[30] Karl, Coburg voran, S. 627f.
Patenschaft
Die Patenschaft über den Stolperstein von Berta Drattler haben Inge und Dieter Ritz übernommen.
