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Biographie
Ilse Kohn kam am 16. März 1906 in Coburg zur Welt.[1] Ihre Eltern waren Siegfried Kohn (Öffnet in einem neuen Tab), der in der Vestestadt ein Modewarengeschäft betrieb, und Hermine Kohn, geborene Kirschner (Öffnet in einem neuen Tab). Ilse hatte zwei Geschwister, die beide im Kindesalter verstorben sind:
- Hertha (geboren am 3. September 1902 in Coburg)
- Justin (geboren am 6. Januar 1913 in Coburg)
Leben in Coburg
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schien es, dass die Coburger Juden völlig in der Stadtgesellschaft integriert waren. Antisemitische Äußerungen gab es kaum. Dies änderte sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges fast schlagartig. Viele machten für die Niederlage und das daraus resultierende wirtschaftliche und politische Chaos die Juden verantwortlich. So waren es zunächst Flugblätter, Zeitungsartikel, Plakate und Vorträge, die ab 1919 gegen die vermeintlichen Schuldigen für die Misere hetzten. Zusammen mit dem frühen Aufstieg des Nationalsozialismus in der Vestestadt bildete dies die Basis für die späteren Gewalttaten gegen die jüdische Bevölkerung In einer ersten Stufe, welche nach der Machtübernahme der Coburger Nationalsozialisten im Jahr 1929 einsetzte, nahmen zunächst die Sachbeschädigungen gegen jüdisches Eigentum und Körperverletzungen gegen einzelne jüdische Bürger massiv zu. Die Juden ihrerseits versuchten sich in dieser Phase mit Anzeigen und Gerichtsprozessen zur Wehr zu setzen. Gebracht hat dies allerdings nichts. Unter dem Eindruck dieser Entwicklung verließen viele Juden die Vestestadt, nachdem bis 1925 ein Anstieg der jüdischen Einwohnerzahlen zu verzeichnen war. Umfasste die jüdische Gemeinde 1925 noch 316 Personen, so sank deren Zahl bis 1933 auf 233 ab.[2]
Ilse Kohn besuchte ab 1912 und während des Ersten Weltkrieges die Schule und lebte mit ihrer Familie seit 1909 in einer Wohnung des Hauses Mohrenstraße 36.[3] Nach dem Krieg waren Schülerinnen und Schüler unterschiedlich stark von Antisemitismus betroffen. Die Intensität und Art der Diskriminierung variierten bis 1933 erheblich: Während einige keinerlei antisemitische Erfahrungen in ihrer Schulgemeinschaft machten, litten andere zunehmend unter Diskriminierung, Isolation und Anfeindungen durch Mitschüler oder Lehrer. Dieses zwiespältige Bild wird durch die bisherigen Forschungen von Hubert Fromm anhand einzelner Biografien bestätigt.[4]
Wie stark Ilse Kohn persönlich vom aufkommenden Antisemitismus betroffen war, lässt sich mangels schulischer Quellen nicht genau feststellen. Als Jugendliche und junge Frau dürfte sie jedoch die ersten antisemitischen Entwicklungen in Coburg hautnah mitbekommen haben.
NS-Zeit
Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 verschärfte sich die Lage der jüdischen Bevölkerung in Deutschland innerhalb weniger Wochen. Auch in Coburg, kam es früh zu Maßnahmen gegen politische Gegner und jüdische Bürger. Bereits im März 1933 wurde Ilses Vater Siegfried von Angehörigen der SA festgenommen.[5] Die SA war in der Anfangsphase des NS-Regimes zur sogenannten „Hilfspolizei“ ernannt worden, was ihr formell die Befugnis gab, polizeiliche Maßnahmen durchzuführen – praktisch aber zu einem massiven Machtzuwachs ohne rechtsstaatliche Kontrolle führte.
Nach seiner Verhaftung, die euphemistisch als „Schutzhaft“ bezeichnet wurde, kam Siegfried Kohn in das Gebäude der Stadtpolizei in der Rosengasse. Dort verbrachte man ihn in die sogenannte „Prügelstube“, wo er schwere Misshandlungen erlitt.[6]
Parallel dazu kam es zu antijüdischen Boykottaktionen. Bereits am 10. März 1933 versammelten sich laut Polizeibericht mehrere hundert Personen vor dem Modegeschäft Kohn und forderten dessen Schließung.[7] Die Hintergründe dieser Demonstration sind nicht vollständig dokumentiert. Während der deutschlandweit organisierte Boykotttag gegen jüdische Geschäfte erst am 1. April 1933 stattfand, kam es in Orten mit früher NSDAP-Präsenz wie Coburg bereits zuvor zu Übergriffen. Auch vom reichsweiten Boykotttag war die Firma Kohn betroffen.[8]
Die städtische Polizei griff nicht ein, um die Demonstration aufzulösen. Stattdessen wurde der Familie Kohn von polizeilicher Seite geraten, das Geschäft aus Sicherheitsgründen vorübergehend zu schließen.[9] Derartige Vorgehensweisen standen im Einklang mit der damals in Teilen der Verwaltung vertretenen Haltung, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Druck könne die „jüdische Frage“ auf kommunaler Ebene faktisch „lösen“.
Flucht
Die Verhaftung und Misshandlung ihres Vaters sowie der Boykott des elterlichen Geschäfts im Jahr 1933 stellten für Ilse Kohn und ihre Familie eine erhebliche Belastung dar. Im Dezember desselben Jahres verlobte sie sich mit dem niederländischen Juden Mozes (Maurits) Pool. [10] Am 22. Februar 1934 heirateten beide in Coburg[11] und zogen kurz darauf gemeinsam in die Niederlande.[12] Durch die Eheschließung erwarb Ilse Pool die niederländische Staatsangehörigkeit, wie es nach der zu diesem Zeitpunkt geltenden niederländischen Gesetzgebung für ausländische Ehefrauen üblich war.[13] Im Unterschied zu vielen anderen deutschen Jüdinnen und Juden, die in den Niederlanden als Flüchtlinge registriert wurden, besaß sie dadurch sofort einen regulären Aufenthaltsstatus. Ob die Heirat von ihr in erster Linie als Möglichkeit gesehen wurde, Deutschland leichter verlassen zu können, lässt sich anhand der bisher bekannten Quellen nicht sicher feststellen.
Leben in den Niederlanden
Ilse Pool lebte nach ihrer Auswanderung mit ihrem Ehemann in Amsterdam. Die Ehe wurde im Jahr 1937 vor einem niederländischen Gericht geschieden.[14] Nach der Scheidung nahm sie wieder ihren Geburtsnamen Kohn an und war anschließend in Amsterdam beruflich als Pensionswirtin und Haushälterin tätig.[15]
Im Mai 1940 erlebte Ilse Kohn den Einmarsch der Wehrmacht in die Niederlande. In den folgenden Monaten führte die deutsche Besatzungsmacht dort zunehmend antijüdische Verordnungen ein.[16] Ab Januar 1941 mussten sich Jüdinnen und Juden bei den jüdischen Gemeinden registrieren lassen.[17] Am 19. Mai 1941 erklärte Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart öffentlich, dass die Niederlande künftig „judenfrei“ sein sollten.[18]
Deportation und Ermordung
Ab Juli 1942 begannen von den Besatzungsbehörden organisierte Deportationen niederländischer Juden in den Osten, was offiziell als „Arbeitseinsatz“ deklariert wurde.[19] Tatsächlich dienten die Transporte dazu, die niederländischen Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager zu verbringen und dort zu ermorden.
Am 24. Juli 1942 wurde Ilse Kohn im Durchgangslager Westerbork interniert. Drei Tage später kam sie mit dem Transport vom 27. Juli 1942 (Transportnummer „T 27-7-42“) ins Konzentrationslager Auschwitz.[20] Mit ihr wurden über 1.000 weitere Juden in das Lager deportiert. Den Deportierten war es gestattet worden, einige Gegenstände wie eine Schüssel, Essensvorräte für drei Tage oder Arbeitsschuhe mitzunehmen. Ziel war es, die betroffenen Juden zu beschwichtigen und den Eindruck zu vermitteln, dass es sich tatsächlich um einen Arbeitseinsatz im Osten handelte. Den übrigen Besitz der Deportierten eignete sich die deutsche Besatzungsmacht an.[21] Nach der Ankunft in Auschwitz am 28. Juli 1942 erfolgte eine Selektion: Ein Teil der Deportierten wurde zur Zwangsarbeit eingeteilt,[22] darunter auch Ilse Kohn, welche die Häftlingsnummer 24046 erhielt.[23] Andere Deportierte dieses Transports wurden unmittelbar nach der Ankunft in den Gaskammern getötet.[24]
Ilse Kohn starb am 23. August 1942 im Alter von 36 Jahren in Auschwitz.[25] Die genauen Todesumstände sind nicht dokumentiert; die Forschung geht davon aus, dass viele Häftlinge in dieser Zeit infolge der extremen Haftbedingungen, wie Mangelernährung, Krankheiten oder Zwangsarbeit, ums Leben kamen.
Erinnerung
Am 14. Oktober 2022 wurde der namenlose Platz gegenüber von Ilse Kohns früherer Wohnadresse in Coburg nach ihr benannt. Das Schicksal Kohns und das ihrer Familie steht dabei beispielhaft für die Brutalität und Grausamkeit, welche die Juden in der Zeit des Nationalsozialismus erleiden mussten. Daran will die Stadt an dieser Stelle erinnern.[26]
Quellen- und Literaturverzeichnis
[1] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Kohn, Ilse.
[2] Eva Karl, Coburg voran!“ Mechanismen der Macht – Herrschen und Leben in der „ersten nationalsozialistischen Stadt Deutschlands“, Regensburg 2025, S. 39-172.
[3] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Kohn, Siegfried und Hermine.
[4] Hubert Fromm, Die Coburger Juden. Geschichte und Schicksal, Coburg ²2001. S. 247 (Beispiel: Esther Hirschfeld (Öffnet in einem neuen Tab)); S. 252f. (Beispiel: Hildegard Reinstein (Öffnet in einem neuen Tab)); S. 266f. (Beispiel: Max G. Löwenherz); S. 287 (Beispiel: Hans Morgenthau (Öffnet in einem neuen Tab)); S. 292 (Beispiel: Gertrude Mayer); S. 307 (Beispiel: Siegbert Kaufmann (Öffnet in einem neuen Tab)).
[5] Fromm, Coburger Juden, S. 65f.
[6] Fromm, Coburger Juden, ²2001, S. 65f.
[7] Karl, "Coburg voran!", S. 572f.
[8] " Coburger National-Zeitung" vom 31.03.1933.
[9] Karl, "Coburg voran!", S. 572f.
[10] "Central-Verein-Zeitung. Blätter für Deutschtum und Judentum" vom 07.12.1933.
[11] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Kohn, Ilse.
[12] Ebd.
[13] Siehe zusammenfassend: Katja Happe, Viele falsche Hoffnungen. Judenverfolgung in den Niederlanden 1940–1945, Paderborn 2017, S. 15-27.
[14] Stadtarchiv Den Haag, Bürger Registrierung Ehen, Ambtenaar van de burgerlijke stand van de gemeente 's-Gravenhage, 's-Gravenhage, Archiv 0335-01, Inventarnummer 1127, 18-06-1937, Nadere toegang op het huwelijksregister van de gemeente 's-Gravenhage, Archivnummer C350.
[15] Monika Felsing, Bettys Nachbarn. NS-Verfolgte im Exil in Amsterdam, Norderstedt 2023, S. 406.
[16] Zusammenfassend bei Happe, S. 46-99.
[17] Jacques Presser, Ondergang: De vervolging en verdelging van het Nederlandse Jodendom 1940–1945. Staatsuitgeverij/Martinus Nijhoff, Den Haag 1965, S. 64.
[18] Gerard Aalders, Roof. De ontvreemding van Joods bezit tijdens de Tweede Wereldoorlog. Sdu, 1999, S. 331.
[19] Happe, S. 102.
[20] Karteikarte des Judenrats in Amsterdam, in: Arolsen Archives (https://collections.arolsen-archives.org/de/document/130321482 (Öffnet in einem neuen Tab)), aufgerufen 28.06.2024.
[21] Transport 27.07.1942 Westerbork, in: Familie Tenhumberg (http://www.tenhumbergreinhard.de/transportliste-der-deportierten/transportliste-der-deportierten-1942/transport-27071942-westerbork.html (Öffnet in einem neuen Tab)), aufgerufen 28.06.2024.
[22] Ebd.
[23] Staatliche Museen Auschwitz-Birkenau (Hrsg.), Sterbebücher von Auschwitz. Fragmente, Namensverzeichnis A-L, München [u.a.] 1995, S. 593.
[24] Transport 27.07.1942 Westerbork, in: Familie Tenhumberg (http://www.tenhumbergreinhard.de/transportliste-der-deportierten/transportliste-der-deportierten-1942/transport-27071942-westerbork.html (Öffnet in einem neuen Tab)), aufgerufen 28.06.2024.
[25] Staatliche Museen, S. 593.
[26] Straßennamen. Ilse-Kohn-Platz, in: Stadt Coburg (https://www.coburg.de/coburg-erleben/stadt-und-stadtgeschichte/strassennamen/inhaltsseiten/Ilse-Kohn-Platz.php (Öffnet in einem neuen Tab)), aufgerufen 28.06.2024.
Patenschaft
Die Patenschaft über den Stolperstein von Ilse Kohn hat Dr. Christian Boseckert übernommen.
