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Stadt Coburg

Stolperstein

Lotte (Lottie) Sander, verh. Shiff

Inhalt

  1. Biographie
  2. Jugendjahre und Wachsender Antisemitismus
  3. NS-Zeit
  4. Reichspogromnacht und Flucht
Verlegeort des Stolpersteins

Biographie

Stolperstein für Lotte Sander (ki-bearbeitet)

Lotte Sander kam am 23. April 1924 in Coburg zur Welt.[1] Ihr Vater Ludwig Sander wurde am 9. November 1882 in Coburg[2], ihre Mutter Thekla Sander, geb. Reilinger (Öffnet in einem neuen Tab), am 27. Oktober in Reilingen (Großherzogtum Baden) geboren.[3] Lotte war das einzige Kind des Ehepaares.

Jugendjahre und Wachsender Antisemitismus

Lotte Sander wuchs in einer für deutsche Juden schwierigen Zeit auf. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte sich das Leben für Juden in Deutschland und damit auch in Coburg schrittweise verändert. Viele Menschen machten sie für die Kriegsniederlage und das daraus resultierende wirtschaftliche und politische Chaos verantwortlich. Ab 1919 wurden zunehmend Flugblätter, Zeitungsartikel, Plakate und Vorträge verbreitet, die gezielt gegen die vermeintlichen Schuldigen dieser Misere hetzten. Zusammen mit dem frühen Aufstieg des Nationalsozialismus in der Vestestadt bildete dies die Basis für die späteren Gewalttaten gegen die jüdische Bevölkerung. Mit der Machtübernahme der Coburger Nationalsozialisten im Jahr 1929 begann eine erste Welle der Gewalt: Die Zerstörung jüdischen Eigentums und körperliche Angriffe auf einzelne jüdische Bürger nahmen drastisch zu. Die jüdische Gemeinschaft versuchte sich in dieser Zeit mit Anzeigen und Gerichtsprozessen zu wehren, doch ihre Bemühungen blieben erfolglos. Unter dem Eindruck dieser Entwicklung verließen viele Juden die Vestestadt, nachdem bis 1925 ein Anstieg der jüdischen Einwohnerzahlen zu verzeichnen war. Umfasste die jüdische Gemeinde 1925 noch 316 Personen, so sank deren Zahl bis 1933 auf 233 ab.[4] Lotte Sander lebte gemeinsam mit ihren Eltern in einem Haus im Steinweg 38. Dort hatte ihr Vater Ludwig Sander ein Schneidergeschäft eröffnet.[5] Dennoch hatten die judenfeindliche Agitation der NSDAP sowie die Aufrufe zum Boykott jüdischer Geschäfte vermutlich spürbare Auswirkungen auf das Geschäft von Teklas Ehemann Ludwig. Die ohnehin angespannte wirtschaftliche Lage verschärfte sich zusätzlich durch die Weltwirtschaftskrise ab 1929. Im November 1931 stand das Wohnhaus im Steinweg 38 der Familie vor der Zwangsversteigerung.[6] Das Verfahren wurde jedoch aufgehoben und das Haus blieb im familiären Besitz.[7]

NS-Zeit

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 verschlechterte sich die Situation jüdischer Schülerinnen und Schüler in Deutschland erheblich. Sie wurden zunehmend diskriminiert, ausgegrenzt und schrittweise aus dem öffentlichen Bildungssystem ausgeschlossen. Der Schulalltag war von antisemitischer Stimmung und Anfeindungen geprägt. Viele Lehrerinnen und Lehrer, die dem Regime folgten oder sich anpassten, nutzten ihren Unterricht gezielt zur Diffamierung jüdischer Kinder, etwa durch beleidigende Bemerkungen oder die Vermittlung antisemitischer Inhalte. In Coburg erfolgte der vollständige Ausschluss jüdischer Schülerinnen und Schüler spätestens im Laufe des Kalenderjahres 1935, vermutlich bereits im Schuljahr 1934/35.[8] 

Lotte Sander besuchte anschließend mit hoher Wahrscheinlichkeit die jüdische Lehranstalt in der Hohen Straße 30. Die Einrichtung, die unter der Leitung von Hermann Hirsch (Öffnet in einem neuen Tab) stand, war ursprünglich ein Knabeninternat und übernahm in dieser Zeit drei wesentliche Aufgaben: Erstens bot sie Schutz vor antisemitischen Übergriffen. Zweitens vermittelte sie ein positives Selbstverständnis der jüdischen Kultur und Geschichte, um den Schülern in einer zunehmend feindseligen Umgebung Halt zu geben. Drittens legte sie besonderen Wert auf den Fremdsprachenunterricht, insbesondere Englisch, Französisch und Hebräisch, um die Schüler auf eine mögliche Emigration vorzubereiten.[9] 

Ein schwerer persönlicher Schicksalsschlag traf Lotte und ihre Mutter Tekla am 21. September 1937, als Ludwigs Sander im Alter von nur 54 Jahren an einer Herzlähmung verstarb.[10] Sein Tod führte auch zur Geschäftsaufgabe, die am 9. November 1937 erfolgte.[11]

Reichspogromnacht und Flucht

Meldekarte von Lotte Sander

Am 10. November 1938 waren Lotte und Thekla Sander Ziel massiver antisemitischer Gewalt im Zuge der reichsweiten Novemberpogrome. In Coburg wurden jüdische Bürger aus ihren Wohnungen geholt, öffentlich durch die Straßen getrieben und auf dem Marktplatz zur Schau gestellt.[12] Lotte und ihre Mutter gehörten zu den Betroffenen dieser gezielten Demütigung.  Infolge der Ausschreitungen wurde die jüdische Lehranstalt in der Hohen Straße gewaltsam geschlossen. Wenige Tage später verfügte das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung den endgültigen Ausschluss aller jüdischen Kinder und Jugendlichen vom öffentlichen Schulunterricht im gesamten Deutschen Reich.[13] 

Die traumatischen Erlebnisse dieses Ereignisses veranlassten Lotte Sander, mit nur 14 Jahren das Deutsche Reich zu verlassen. Am 1. Februar 1939 bestieg sie die „S.S Washington“ in Hamburg und erreichte am 8. Februar den Hafen von New York. Von dort reiste sie weiter nach New Orleans (Louisiana), wo sie von ihrem Onkel Mila Samuels aufgenommen wurde.[14] Ihre Mutter Tekla musste sie zurücklassen – sie sollte sie nie wiedersehen. Thekla Sander wurde am 27. November 1941 deportiert. Der Transport brachte sie über Nürnberg in das Lager Jungfernhof bei Riga.[15] lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Ihr genaues Todesdatum ist unbekannt. 

Lotte Sander heiratete im März 1942, im Alter von 17 Jahren, in New Orleans Morris Shiff[16], der als „Salesmann“ tätig war.[17] Am 14. Dezember 1945 erhielt Lotte sie die US-amerikanische Staatsbürgerschaft.[18] Über ihr weiteres Leben ist nur wenig bekannt. Lotte Sander, verh. Shiff, verstarb am 5. Juni 2008 im Alter von 84 Jahren in Reno (Nevada).[19]

Quellen- und Literaturverzeichnis

[1]   Stadtarchiv Coburg: Einwohnermeldekarte Sander, Lotte.

[2]   Stadtarchiv Coburg: Sterbebucheintrag Ludwig Sander vom 25. September 1937.

[3]   Standesamt Reilingen: Geburtsregister Tekla Reilinger vom 30. Oktober 1882; Siehe auch: Stadtarchiv Coburg: Einwohnermeldekarte Sander, Ludwig und Thekla; Siehe auch: Stadtarchiv Weinheim: Heiratseintrag_Thekla_Sander_geb_Reilinger_88_1921.

[4]   Zusammenfassung bei Hubert Fromm, Die Coburger Juden. Geschichte und Schicksal, Coburg ²2001.

[5]   Stadtarchiv Coburg: Einwohnermeldekarte Sander, Lotte; Siehe auch: Stadtarchiv Coburg: Gewerbekarte der Firma Sander Ludwig.

[6]   "Coburger Zeitung" vom 2. April 1931.

[7]   Adreß-Buch der Stadt Coburg mit den Stäten Neustadt b. Cbg. Und Rodach sowie 152 Landorten des ehemaligen Herzogtums Coburg. 2. Teil Straßen- und Häuser-Verzeichnis mit Angabe der Hauseigentümer, Mieter und Geschäftsräume, Coburg [1937], S.57.

[8]   Ophir, Baruch Z. et Falk Wiesmann (Hrsg.): Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918-1945. Geschichte und Zerstörung, München, Wien 1979, S.128.

[9]   Fromm, Coburger Juden², S. 207-223.

[10]  Stadtarchiv Coburg: Sterbebucheintrag Ludwig Sander vom 25. September 1937.

[11]  Stadtarchiv Coburg: Gewerbekarte der Firma Sander Ludwig.

[12]  Fromm, Hubert: Der Antisemitismus von 1919 bis 1942, in: Hubert Fromm (Hrsg.): Die Coburger Juden. Geduldet – Geächtet – Vernichtet, 3.Aufl., Coburg 2012, S.1-138, hier S.95-102.

[13]  Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung: Runderlass: „Schulunterricht an Juden“ vom 15. November 1938: „Nach der ruchlosen Mordtat von Paris kann es keinem deutschen Lehrer […] mehr zugemutet werden, an jüdische Schulkinder Unterricht zu erteilen. Auch versteht es sich von selbst, daß es für deutsche Schüler unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen […]. [Ich] ordne daher mit sofortiger Wirkung an: Juden ist der Besuch deutscher Schulen nicht gestattet. Sie dürfen nur jüdische Schulen besuchen […].“ Text bei: Walk, Joseph (Hrsg.): Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung, Karlsruhe 1981, S.256.

[14] The National Archives in Washington, DC; Washington, DC, USA; Passenger and Crew Lists of Vessels Arriving at New York, New York, 1897-1957; Mikrofilm-Seriennummer oder NAID: T715; Titel der Aufzeichnungsgruppe (RG, Record Group): Records of the Immigration and Naturalization Service, 1787-2004; RG: 85, letzter Zugriff: 13.06.2025; Siehe auch: Stadtarchiv Coburg: Einwohnermeldekarte Sander, Lotte.

[15]  Fromm: Antisemitismus, S. 133f.; Siehe auch: Statistik und Deportation der jüdischen Bevölkerung aus dem Deutschen Reich. Nürnberg – Würzburg nach Riga. Abfahrtsdatum 29.11.41, Deportierte 1010 (https://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_bay_411129.html (Öffnet in einem neuen Tab)), aufgerufen 12.07.2024.

[16]  Ancestry.com. New Orleans, Louisiana, USA, Index der Heiratsregister, 1831-1964 [Datenbank online]. Provo, UT, USA: Ancestry.com Operations, Inc., 2002, letzter Zugriff: 13.06.2025.

[17]  R.L. Polk & Co (Hrsg.): New Orleans Suburban Area, Jefferson and St Bernard Parishes, Airline Park, Algiers, Arabi, Armbuster, Aurora, Bonnabel Place, Bridge City, Bridgedale, Chalmette, East Bank, East End, Gretna, Harahan, Harvey, Highway Park, Jefferson, Kenner, Kenner Project, Little Farms, Marrero, Metairie, Pontchartrain Gardens, Rural Park, St Claude Heights, Chrews Bury, Southport, Upstream and Westwego, 1955, S.788, abgerufen unter: https://www.myheritage.de/research/collection-10705/us-stadtverzeichnisse?itemId=48367987-S&action=showRecord&recordTitle=Lotte+Shiff (Öffnet in einem neuen Tab), letzter Zugriff: 13.06.2025.

[18]  National Archives and Records Administration - Southeast Region (Atlanta); Atlanta, GA; Lists of Granted, Denied, and Continued Petitions, Compiled 1929-2000; Seriennummer: 4499830; Titel des Aufzeichnungssatzes: Records of District Courts of the United States; Nummer des Aufzeichnungssatzes: 21, letzter Zugriff: 13.06.2025.

[19]  Ancestry.com. USA, Sterbeindex der Sozialversicherung, 1935-2014 [Datenbank online]. Provo, UT, USA: Ancestry.com Operations Inc, 2014, letzter Zugriff: 13.06.025).

Patenschaft

Die Patenschaft über den Stolperstein von Lotte Sander hat Gertraud Drechsler übernommen.

Erläuterungen und Hinweise

Bildnachweise

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