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Stadt Coburg

Stolperstein

Sofie Gutmann, geb. Grünewald

Inhalt

  1. Biographie
  2. Leben in Gießen
  3. Heirat
  4. Leben in Coburg
  5. NS-Zeit
  6. Flucht und Leben in den USA
Verlegeort des Stolpersteins

Biographie

Stolperstein für Sofie Gutmann (ki-bearbeitet)

Sofie Gutmann kam am 18. September 1889 in Gießen im Großherzogtum Hessen zur Welt.[1] Ihr Vater Jakob Grünewald wurde am 6. April 1860 in Großen-Buseck bei Gießen geboren, ihre Mutter Helene Grünewald, geborene Bamberger, kam etwa 1865 zur Welt. Sophie Selma hatte zwei Schwestern:

  • Johanna (geboren am 11. Oktober 1887 in Gießen) 
  • Olga (geboren am 17. Oktober 1896 in Gießen)

Leben in Gießen

Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts existierte in Gießen eine jüdische Gemeinde, deren Mitgliederzahl im Laufe des 19. Jahrhunderts kontinuierlich zunahm. Der jüdische Bevölkerungsanteil stieg von etwa 720 Personen im Jahr 1890 auf 1035 im Jahr 1910, was etwa drei Prozent der Stadtbevölkerung entsprach.[2] Diese Entwicklung war Teil eines allgemeinen Trends: Seit der rechtlichen Gleichstellung der Juden im Großherzogtum Hessen (mit dem Emanzipationsgesetz von 1848) kam es verstärkt zur Ansiedlung jüdischer Familien in Städten wie Gießen, wo bessere ökonomische und gesellschaftliche Perspektiven bestanden.

Bereits 1830 wurde ein jüdischer Friedhof angelegt. Infolge des Gemeindezuwachses errichtete man Ende der 1860er Jahre eine neue Synagoge, die aufgrund des wachsenden Bedarfs in den 1890er Jahren erweitert wurde. Die religiöse Vielfalt innerhalb der Gemeinde führte 1887 zur institutionellen Trennung in eine liberale und eine orthodoxe Gemeinschaft, ein Phänomen, das sich vielerorts in Deutschland beobachten lässt.[3]

Die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Gießens war im Handel und als Kaufleute tätig, einige übten freie Berufe wie Medizin, Jura oder Journalismus aus. Diese wirtschaftliche und kulturelle Integration war kennzeichnend für das jüdische Bürgertum im Kaiserreich, wenngleich antisemitische Ressentiments auch in dieser Zeit latent vorhanden waren.[4]

In dieser bürgerlich geprägten Gemeinde wuchs auch Sofie Grünewald auf, über deren frühes Leben in Gießen nur wenige gesicherte Informationen vorliegen. Sie besuchte dort vermutlich eine höhere Schule für Mädchen. 

Heirat

Sofie Grünewald heiratete am 6. November 1911 in Gießen den Chirurgen Dr. Emil Gutmann (Öffnet in einem neuen Tab).[5]  Er war ebenfalls Jude und wurde am 16. Juni 1877 in Coburg geboren. Ihre Schwiegereltern hießen Samuel Gutmann und Luise Gutmann, geborene Korn. Das frischvermählte Ehepaar hatte zwei Töchter: Helene (Öffnet in einem neuen Tab), geboren am 8. Dezember 1912, und Margarethe (Öffnet in einem neuen Tab), geboren am 22. Januar 1917.[6] 

Leben in Coburg

Die Chirurgische und Orthopädische Klinik Gutmann in der Mohrenstraße

Nach ihrer Heirat zog Sofie Gutmann zu ihrem Ehemann nach Coburg. Das Ehepaar wohnte in der Mohrenstraße 32, wo sich auch Emil Gutmanns Praxis für Chirurgie und Orthopädie befand.[7]  Sofie Gutmann übernahm entsprechend den bürgerlichen Rollenerwartungen der Zeit die Aufgaben im Haushalt und die Erziehung der gemeinsamen Tochter Helene.

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 wurde Emil Gutmann als Stabsarzt in die bayerische Armee eingezogen. Während seiner Dienstzeit war er zunächst in Bamberg, später in Würzburg stationiert. Sofie Gutmann folgte ihm mit der Tochter dorthin. Erst nach Kriegsende im Jahr 1918 kehrte die Familie nach Coburg zurück.[8]

In den Jahren nach dem Krieg veränderte sich das gesellschaftliche Klima in Coburg – wie in vielen deutschen Städten – deutlich zum Nachteil der jüdischen Bevölkerung. Politische Instabilität, wirtschaftliche Not und die Suche nach „Schuldigen“ für die Niederlage des Deutschen Reiches begünstigten das Erstarken antisemitischer Diskurse. Bereits ab 1919 kam es in Coburg zu antisemitischen Publikationen, öffentlichen Reden und Plakataktionen, die sich insbesondere gegen jüdische Geschäftsleute und Intellektuelle richteten. Diese Agitationen bereiteten den Boden für eine systematische Ausgrenzung jüdischer Bürger. Besonders früh erstarkte in Coburg die nationalsozialistische Bewegung: Bereits 1929 errang die NSDAP bei den Kommunalwahlen die Mehrheit – Coburg gilt damit als eine der ersten Städte mit nationalsozialistischer Stadtregierung in Deutschland. In der Folge nahm die antisemitische Gewalt deutlich zu: Jüdische Geschäfte wurden beschädigt, jüdische Bürger tätlich angegriffen und öffentlich diffamiert. Betroffene versuchten, sich juristisch zur Wehr zu setzen – durch Strafanzeigen und Gerichtsverfahren –, was jedoch angesichts der politischen Machtverhältnisse und der antisemitisch geprägten Justiz kaum Wirkung zeigte.[9]

Die jüdische Gemeinde Coburgs schrumpfte in dieser Zeit deutlich. Viele jüdische Familien verließen Coburg in dieser Zeit, sei es aus wirtschaftlichem Druck oder aus Sorge um ihre Sicherheit. Ob und in welchem Maß die Familie Gutmann selbst von antisemitischen Übergriffen betroffen war, ist aus den verfügbaren Quellen nicht eindeutig zu rekonstruieren. Es ist jedoch belegt, dass Emil Gutmann seine Praxis in den 1920er Jahren zu einer angesehenen orthopädischen Fachklinik ausbauen konnte, was auf eine gewisse gesellschaftliche Anerkennung zumindest in Teilen der Stadtbevölkerung schließen lässt – trotz der sich verschärfenden politischen Lage.[10]

NS-Zeit

Sofie Gutmann (ki-bearbeitet)

Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme im Januar 1933 verschärfte sich auch für die Familie Gutmann in Coburg die politische und soziale Lage grundlegend. Bereits im März 1933 organisierte die NSDAP in ganz Deutschland einen reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte, Arztpraxen und Anwaltskanzleien, an dem sich auch lokale Parteigliederungen beteiligten. Die orthopädische Klinik von Emil Gutmann war davon betroffen.[11]  

Ein einschneidender Einschnitt folgte durch die Verordnung über die Zulassung von Ärzten zur kassenärztlichen Tätigkeit vom 22. April 1933. Sie diente dem Zweck, jüdische Ärzte systematisch aus dem staatlich regulierten Gesundheitssystem zu verdrängen.[12] Sofies Ehemann verlor in diesem Zuge seine Zulassung zur Behandlung von Kassenpatienten. In der Folge war seine ärztliche Tätigkeit auf die Versorgung jüdischer Patientinnen und Patienten sowie privat zahlender Personen beschränkt. Diese Einschränkungen führten zu erheblichen wirtschaftlichen Einbußen.

Im Jahr 1935 verließ die ältere Tochter Margarethe Deutschland, um in Zürich ein Medizinstudium zu beginnen – eine Entscheidung, die sowohl mit ihrer akademischen Laufbahn als auch mit der zunehmend prekären Lage jüdischer Studenten im Deutschen Reich zusammenhing.[13] Ihre Schwester Helene emigrierte 1938.[14]

Parallel zu diesen familiären Entwicklungen verschärften die Nationalsozialisten ihren Druck auf jüdische Ärzte. Mit der Vierten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. Juli 1938 wurde ihnen die ärztliche Approbation generell entzogen.[15] Fortan durften sie nur noch als sogenannte „Krankenbehandler“ für jüdische Patientinnen und Patienten tätig sein. Damit wurde jüdischen Ärzten nicht nur die Berufsausübung stark eingeschränkt, sondern auch die Berufsbezeichnung „Arzt“ selbst aberkannt – ein ideologischer Akt mit tiefgreifender symbolischer Wirkung.

Nach den Novemberpogromen vom 9./10. November 1938, die im gesamten Deutschen Reich von staatlicher Seite organisiert und von der Bevölkerung vielfach mitgetragen wurden, kam es auch in Coburg zu Übergriffen. Infolge der Ereignisse wurde Sofie Gutmann und ihr Ehemann, wie auch die anderen Juden, durch die Straßen Coburgs getrieben und auf dem Markt an den Pranger gestellt.[16] Die Frauen und Kinder, darunter Sofie Gutmann, durften nach dieser Demütigung nach Hause zurückkehren. Die männlichen Gefangenen wurden in der alten Angerturnhalle festgehalten. Geplant war ursprünglich ihre Überstellung in das Konzentrationslager Dachau. Da das Lager zu diesem Zeitpunkt überfüllt war, wurden die Männer stattdessen in das Gefängnis im oberfränkischen Hof gebracht. Ob unter den Personen Sofies Ehemann warm ist nicht bekannt.[17]

Die Ereignisse des Jahres 1938 – insbesondere die Zerstörung jüdischer Existenzen im Zuge der Pogrome – setzten bei vielen jüdischen Familien die Überlegungen zur Emigration oder Umsiedlung in Gang. Auch das Ehepaar Gutmann entschloss sich offenbar in dieser Phase, Coburg zu verlassen. Ein Schritt in diese Richtung war der Verkauf des Hauses in der Mohrenstraße.[18]  Die Transaktion unterlag jedoch den strengen Auflagen der NS-Devisengesetzgebung. Die Verhandlungen mit der Bezirksregierung von Ober- und Mittelfranken zogen sich bis August 1939 hin. Der schließlich genehmigte Kaufpreis von 67.500 Reichsmark musste auf ein Sperrkonto bei einer Devisenbank eingezahlt werden. Über dieses Konto konnte nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Oberfinanzpräsidenten in Nürnberg verfügt werden – ein übliches Verfahren zur Kontrolle und Einschränkung jüdischer Vermögen im Vorfeld von Emigrationen.[19] Damit war der Familie Gutmann faktisch der Zugriff auf ihr Eigentum entzogen.

Flucht und Leben in den USA

Angesichts der sich weiter verschärfenden Verfolgungspolitik wurde es für die Gutmanns immer dringlicher, Deutschland zu verlassen. Die finanzielle Grundlage für eine Emigration konnten sie – trotz staatlicher Restriktionen und der erzwungenen Hinterlegung des Hausverkaufserlöses auf einem Sperrkonto – schließlich aufbringen.

Mitte Oktober 1941 verließen Sofie und Emil Gutmann Coburg und emigrierten über noch mögliche Ausreisewege nach Kuba.[20] Ihre Flucht erfolgte nur wenige Tage vor dem Inkrafttreten eines generellen Ausreiseverbots für jüdische Deutsche, das das Reichssicherheitshauptamt am 23. Oktober 1941 verfügte.[21] Mit diesem Verbot wurde die legale Ausreise für Jüdinnen und Juden nahezu vollständig unterbunden. Stattdessen begann nun die systematische Deportation in den Osten – auch aus Coburg: Bereits Ende November 1941 wurden die ersten jüdischen Bewohner der Stadt in Sammeltransporte gezwungen und in Ghettos und Lager deportiert.[22]

Zunächst lebte das Ehepaar Gutmann in Havanna, der Hauptstadt Kubas. Die genauen Umstände ihrer Aufnahme sind nicht dokumentiert, jedoch war die kubanische Einreisepolitik auch für jüdische Geflüchtete restriktiv. Im Oktober 1943 gelang ihnen die Weiterreise in die Vereinigten Staaten.[23] Dort ließen sie sich dauerhaft nieder und wohnten in Los Angeles, Kalifornien.[24]

Im Jahr 1946 folgte auch ihre Tochter Helene in die USA.[25] Bereits ein Jahr zuvor, 1945, hatte Sofie Gutmann die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten.[26] Ab den 1950er Jahren lebte sie gemeinsam mit Helene in West Hollywood.[27] Ihr Ehemann Emil Gutmann war bereits 1956 verstorben.[28]

Sofie Gutmann starb am 21. April 1975 im Alter von 85 Jahren in Kalifornien.[29] Sie wurde auf dem Rolling Hills Memorial Park in Richmond an der Seite ihres Ehemanns beigesetzt.[30]

Quellen- und Literaturverzeichnis

[1]     Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Gutmann, Emil und Sophie Selma. 

[2]     Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang-Untergang-Neubeginn, Bd. 1, Frankfurt am Main 1971, S. 254. 

[3]     Klaus-Dieter Alicke, Gießen (Hessen) in: Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum (https://www.xn--jdische-gemeinden-22b.de/index.php/gemeinden/e-g/721-giessen-hessen (Öffnet in einem neuen Tab)),aufgerufen 19.07.2024.

[4]     Ebd.

[5]     Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Bestand: 905, Laufende Nummer: 361.

[6]     "Regierungs-Blatt für das Herzogtum Coburg" vom 18.12.1912, S. 514; Siehe auch: Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Gutmann, Margarethe.

[7]     Adressbuch der Stadt Coburg, Ausgabe 1911, S. 130.

[8]     Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Abteilung IV: Kriegsarchiv. Kriegsstammrollen, 1914-1918, Bd. 20342, Kriegsrangliste.

[9]     Eva Karl, Coburg voran!“ Mechanismen der Macht – Herrschen und Leben in der „ersten nationalsozialistischen Stadt Deutschlands“, Regensburg 2025, S. 39-172.

[10]    Adressbuch der Stadt Coburg, Ausgabe 1927, S. 231.

[11]    "Coburger National-Zeitung" vom 31.03.1933.

[12]    RGBl, I 1933, S. 222.

[13]    Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Gutmann, Margarethe.

[14]    Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Gutmann, Helene. 

[15]    RGBl, I 1938, S. 969f. 

[16]    Hubert Fromm, Die Coburger Juden. Geschichte und Schicksal, Coburg ²2001, S. 94-97.

[17]    Die Beschreibung dieses Ereignisses bei Fromm, S. 95ff.

[18]    Stadtarchiv Coburg, A 10316, fol. 128. 

[19]    Stadtarchiv Coburg, A 10316, fol. 134.

[20]     Registrierung von Ausländern und deutschen Verfolgten, in: Arolsen Archives (https://collections.arolsen-archives.org/de/document/69862708 (Öffnet in einem neuen Tab)), aufgerufen 25.07.2024.

[21]    Geheimer Erlass des Reichssicherheitshauptamts vom 23.10.1941: „[Verbot der Auswanderung von Juden]: Die Auswanderung Juden aus Deutschland ist ausnahmslos für die Dauer des Krieges verboten.“ Gesetzestext bei: Walk: Sonderrecht, S.353.; Schreiben des Reichsministeriums für Finanzen vom 4.11.1941: „Abschiebung von Juden: Juden, die nicht in volkswirtschaftlich wichtigen Betrieben beschäftigt sind, werden in den nächsten Monaten in die Ostgebiete abgeschoben. Das Vermögen der abzuschiebenden Juden wir zugunsten des Deutschen Reichs eingezogen, außer 100 RM und 50 kg Gepäck je Person. […]“. Gesetzestext bei: Walk: Sonderrecht, S.354.

[22]    Fromm, Coburger Juden, S. 131. 

[23]    National Archives at Riverside, California, Petitions For Naturalization, U.S. District Court For the Central District of California (Los Angeles), 1940-1991, NAI-Nummer: 594890, Titel des Aufzeichnungssatzes: Records of District Courts of the United States, 1685-2009; Nummer des Aufzeichnungssatzes: 21.

[24]    Ebd.

[25]    National Archives at Washington, DC, Seventeenth Census of the United States, 1950, Gebiet der Volkszählung: Beverly Hills, Los Angeles, California, Rolle: 2129; S. 75, Zählungsdistrikt: 19-218; National Archives at Washington, DC, Passenger and Crew Lists of Vessels Arriving at New York, New York, 1897-1957, Mikrofilm-Seriennummer oder NAID: T715, Titel der Aufzeichnungsgruppe (RG, Record Group): Records of the Immigration and Naturalization Service, 1787-2004, RG: 85.

[26]    National Archives in Washington, DC, Naturalization Index Cards of the U.S. District Court For the Southern District of California, Central Division (Los Angeles), 1915-1976 (M1525), Seriennummer des Mikrofilms: M1525, Mikrofilmrolle: 54.

[27]    Social Security Administration; Washington D.C., USA; Social Security Death Index, Master File.

[28]    Fromm, Coburger Juden, S. 106.

[29]    State of California, California Death Index, 1940-1997, Sacramento, CA, USA: State of California Department of Health Services, Center for Health Statistics.

[30]   https://de.findagrave.com/memorial/104854609/emil-gutman (Öffnet in einem neuen Tab) (Zugriff:02.08.2024).

Patenschaft

Die Patenschaft über den Stolperstein von Sofie Gutmann hat Gerrit Lepper übernommen.

Erläuterungen und Hinweise

Bildnachweise

  • Stadt Coburg
  • Christian Boseckert
  • The National Archives in Washington DC
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