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Biographie
Nathan Ludwig kam am 12. Oktober 1871 in Gleicherwiesen im Herzogtum Meiningen zur Welt.[1] Sein Vater Hermann Ludwig wurde am 13. Januar 1843 in Simmershausen (Herzogtum Meiningen) geboren, seine Mutter Marianne Ludwig, geb. Gerst, kam in Zeckendorf bei Scheßlitz (Königreich Bayern) zur Welt. Nathan hatte zwei Schwestern:
- Hulda Ludwig (geboren am 25. Februar 1877 in Gleicherwiesen)
- Frieda Veilchen Ludwig (geboren am 5. April 1879 in Gleicherwiesen)
Leben in Gleicherwiesen
Die jüdische Gemeinde in Gleicherwiesen wurde im Jahr 1681 gegründet. Etwa 100 Jahre später fand die Einweihung der ersten Synagoge statt, die aufgrund des Wachstums der jüdischen Bevölkerung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erweitert werden musste. Schließlich wurde im Jahr 1865 ein Neubau errichtet, der den religiösen Bedürfnissen der wachsenden Gemeinde besser entsprach.[2]
Neben der Synagoge entstanden im Laufe des 19. Jahrhunderts weitere Einrichtungen, die das religiöse und soziale Leben der jüdischen Gemeinde prägten: Eine Mikwe (rituelles Tauchbad) wurde 1839 eingerichtet, ein jüdischer Friedhof in den Jahren 1846/47 angelegt. Ebenfalls im 19. Jahrhundert entstanden eine jüdische Elementarschule sowie ein koscheres Backhaus. Diese Institutionen dokumentieren die fest etablierte Präsenz jüdischen Lebens im Ort.[3]
Im Jahr 1853 lebten 188 jüdische Personen in Gleicherwiesen. Bis 1875 stieg ihre Zahl auf 233, was einem Anteil von über 42 % an der Gesamtbevölkerung entsprach.[4] Damit stellte die jüdische Gemeinde eine bedeutende Bevölkerungsgruppe im Ort dar.
Gleicherwiesen war im 19. Jahrhundert ein Marktort mit vier regelmäßigen Jahr- und Viehmärkten. Diese Märkte zogen Käufer aus der Umgebung an und boten auch Händlern gute Absatzmöglichkeiten. Unter ihnen befanden sich zahlreiche jüdische Viehhändler, die sich im Ort niederließen. Die wirtschaftliche Tätigkeit der jüdischen Bevölkerung war eng mit dem regionalen Viehhandel verbunden, was in dieser Zeit typisch für viele Landgemeinden in Franken und Thüringen war.[5]
In diesem Umfeld besuchte Nathan Ludwig wohl die jüdische Elementarschule und erlebte 1884 in der Gleicherwiesener Synagoge seine Bar Mitzwa.
In dieser Zeit verließen aber bereits viele jüdische Familien den Ort und zogen in die größeren Nachbarstädte. 1925 sind noch 46 Mitglieder der Gemeinde nachweisbar. Grund für diese Abwanderung waren überregionale Entwicklungen: Durch rechtliche Gleichstellung und neue wirtschaftliche Möglichkeiten infolge der Industrialisierung zogen viele jüdische Familien aus ländlichen Gebieten in größere Städte. Coburg war dabei für viele Juden ein attraktives Ziel, da der Ort bessere Arbeitsmöglichkeiten und die Chance eines sozialen Aufstiegs bot. Hinzu kamen Veränderungen im Viehhandel und anderen traditionellen Erwerbszweigen, die zunehmend in städtische Märkte verlagert wurden.[6] Mangels Quellen lässt sich nicht sicher feststellen, ob und in welchem Ausmaß diese Entwicklungen auch Nathan Ludwig dazu veranlassten, seinen Heimatort zu verlassen und in einer größeren Stadt Arbeit zu suchen.
Heirat mit Bella Kahn
Nathan Ludwig heiratete im Januar 1911 in Simmershausen Bella Kahn (Öffnet in einem neuen Tab).[7] Sie war ebenfalls Jüdin und wurde am 16. Februar 1888 im Ort der Eheschließung geboren. Seine Schwiegereltern hießen Ludwig Kahn, der ebenfalls als Viehhändler tätig war, und Selma Kahn, geborene Rosenthal. Das Ehepaar Ludwig hatte zwei Töchter: Erna Hilde (Öffnet in einem neuen Tab), geboren am 26. Juli 1912, und Anneliese (Öffnet in einem neuen Tab), geboren am 3. September 1913.[8]
Geschäft
Nach seiner Heirat verlegte Nathan Ludwig seinen Wohnsitz nach Coburg und führte dort seine Tätigkeit als Viehhändler weiter. Während des Ersten Weltkrieges ist er in mehreren Quellen als Spender für verschiedene Hilfsaktionen belegt, darunter das Deutsche Rote Kreuz[9], die Unterstützung kriegsnotleidender Bevölkerungsteile in Ostpreußen sowie die Nationalstiftung für Hinterbliebene gefallener Soldaten.[10]
Im Jahr 1916 beauftragte der Landwirtschaftsrat des Herzogtums Coburg die lokalen Viehhändler, Schlachtvieh für die Versorgung des deutschen Heeres, der Lazarette und der Kriegsgefangenenlager zu beschaffen. Auch Nathan Ludwig wurde in diesem Zusammenhang genannt.[11] Zeitgleich wurde er stellvertretendes Mitglied des Schiedsgerichts des Viehhandelsverbandes Thüringen, das auf Antrag Preisklassen für Schlachtvieh überprüfen sollte.[12] Aus den Akten geht hervor, dass er dieses Amt nur bis Oktober 1917 ausübte, bevor er durch den Coburger Viehhändler Selig Stern (Öffnet in einem neuen Tab) ersetzt wurde.[13]
Insgesamt gestalteten sich die Kriegsjahre für die Viehhandlung Ludwig sehr erfolgreich. Im Jahr 1919 erwarb Nathan für seine Familie ein Wohnhaus in der Brückenstraße 3 (heute Gartenstraße 3).[14] Ende der 1920er Jahre verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage des Betriebs. 1929 wurde ein Konkursverfahren eröffnet.[15] Zwar bestand die Viehhandlung nach Abschluss des Verfahrens weiter, doch die finanziellen Schwierigkeiten hielten an. 1932 verkaufte Ludwig sein Haus[16]; ob dies eine direkte Folge der wirtschaftlichen Probleme war, lässt sich aus den verfügbaren Quellen nicht eindeutig erschließen. Er und seine Familien blieben weiterhin in dem Gebäude wohnen.[17]
Wachsender Antisemitismus
Nach dem Ersten Weltkrieg verschlechterte sich die gesellschaftliche Lage für die jüdische Bevölkerung in Coburg deutlich. In der instabilen Nachkriegszeit nahmen antisemitische Stimmungen zu. Jüdische Mitbürger wurden – durch Presse, Flugblätter und politische Propaganda befeuert – pauschal für Niederlage und Krisen verantwortlich gemacht. Ab 1919 trugen völkisch-nationalistische Gruppen zur weiteren Verbreitung dieser Ressentiments bei. In Coburg fand diese Stimmung früh Anschluss an die politische Radikalisierung, in deren Folge die NSDAP bereits in den 1920er Jahren an Einfluss gewann.
Nach dem kommunalpolitischen Wahlsieg der NSDAP 1929 kam es verstärkt zu Übergriffen auf jüdische Geschäftsleute, zu Sachbeschädigungen und physischen Angriffen. Strafrechtliche Konsequenzen blieben meist aus. Rechtliche Gegenwehr durch Anzeigen und Klagen hatte angesichts der Passivität der Behörden kaum Erfolg. Viele jüdische Familien verließen Coburg bereits vor 1933: Die Mitgliederzahl der Gemeinde sank von 316 (1925) auf 233 (1933) – Ausdruck zunehmender Ausgrenzung und Verunsicherung.[18] Auf die Familie Ludwig hatte diese Entwicklung offenbar aber keine konkreten Auswirkungen Über antisemitische Übergriffe auf Nathan Ludwig ist in dieser Zeit nichts bekannt.
NS-Zeit
Die politischen Veränderungen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 wirkten sich auch auf das Leben der Familie Ludwig aus. Ende 1934 verließ Nathans Tochter Erna Hilde Deutschland und emigrierte in die Niederlande.[19] Konkrete Gründe für diese Entscheidung sind in den vorliegenden Quellen nicht überliefert, ein Zusammenhang mit den zunehmenden Einschränkungen für jüdische Bürger ist jedoch naheliegend.
Die wirtschaftliche Lage der Viehhandlung verschlechterte sich ab 1935 deutlich. In dieser Zeit intensivierte die Stadt Coburg ihre Bemühungen, den jüdischen Viehhandel vollständig zu unterbinden. Im Herbst 1935 entzog die Stadtverwaltung mehreren jüdischen Viehhändlern, darunter auch Nathan Ludwig, die Gewerbeerlaubnis. Diese Maßnahme war formal juristisch umstritten und stieß auf Widerspruch beim Regierungspräsidium in Bayreuth, das für den Bezirk Oberfranken zuständig war. Infolgedessen wurde die vollständige Maßnahme teilweise zurückgenommen: Drei jüdische Viehhändler erhielten ihre Konzession unter strengen Auflagen zurück, darunter regelmäßige Kontrolle und die Androhung sofortiger Suspendierung bei geringfügigen Verstößen.[20]
Nathan Ludwig jedoch erhielt seine Konzession nicht zurück. Schon vorher hatte die Kreisbauernschaft Coburg von der Gewerbepolizei gefordert, Ludwig die Konzession zu entziehen, da dieser nicht die „Zuverlässigkeit [hätte], die von einem Viehhändler unbedingt verlangt werden muss.“[21] Im Falle einer Fortsetzung seiner Tätigkeit als Viehhändler wurde Ludwig angedroht, ihn in Haft zu nehmen.[22] Trotz wiederholter Eingaben bei verschiedenen Verwaltungsstellen blieb der Versuch Ludwigs und weiterer betroffener jüdischer Viehhändler, auf dem Beschwerdeweg die Wiederzulassung zu erreichen, erfolglos. Letztlich wurde durch eine Vielzahl bürokratischer Maßnahmen die Fortführung eines regulären Handelsbetriebs unmöglich gemacht.[23]
Nach dem Verlust seiner Konzession musste Ludwig seine bisherige Tätigkeit einstellen und begann, seinen Lebensunterhalt als Wäschevertreter zu bestreiten.[24] Aus weiteren Quellen geht hervor, dass er ab 1937 auch als Handlungsreisender andere Einkommensmöglichkeiten zu erschließen versuchte, diese aber offenbar keine ausreichenden Erträge brachten.[25] Im März 1936 verlor die Familie Ludwig ihre Wohnung in der Brückenstraße. Sie zog daraufhin in das Haus des jüdischen Papierhändlers Kaufmann in der Bahnhofstraße 25a.[26]
Im Jahr 1937 verließen auch Ludwigs zweite Tochter Anneliese und ihr Ehemann Wilhelm Oppenheimer, den sie 1936 geheiratet hatte, Coburg und emigrierten nach Kolumbien.[27]
Am 10. November 1938 wurden Nathan Ludwig und seine Frau infolge der sogenannten „Reichspogromnacht“ aus ihrem Haus geholt. Gemeinsam mit anderen jüdischen Bürgern aus Coburg wurden sie durch die Stadt getrieben und auf dem Marktplatz öffentlich gedemütigt. Während Frauen und Kinder später nach Hause zurückkehren durften, brachte man Nathan und die anderen jüdischen Männer in die alte Turnhalle am Anger. Ursprünglich war geplant, 16 von ihnen in das Konzentrationslager Dachau zu deportieren. Da dieses jedoch überfüllt war, wurden die Gefangenen stattdessen in das Gefängnis von Hof an der Saale überführt.[28] Ob Nathan Ludwig zu den 16 Männern gehörte, ist nicht bekannt.
Schließlich musste Ludwig nach der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12. November 1938 auch seine Tätigkeit als Handelsvertreter aufgeben. Die Verordnung entzog jüdischen Geschäftsleuten das Recht, ein Gewerbe zu betreiben. Jüdische Unternehmen mussten deshalb bis zum 31. Dezember 1938 schließen.[29] Nathan Ludwig gab seinen Gewerbeschein Ende Januar 1939 zurück.[30]
Tod
Quellen- und Literaturverzeichnis
[1] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Ludwig, Nathan und Bella.
[2] Gleicherwiesen (Thüringen), in: https://www.xn--jdische-gemeinden-22b.de/index.php/gemeinden/e-g/732-gleicherwiesen-thueringen (Öffnet in einem neuen Tab) (aufgerufen 19.04.2024); Gleicherwiesen mit Simmershausen, in: https://www.alemannia-judaica.de/gleicherwiesen_synagoge.htm (Öffnet in einem neuen Tab) (aufgerufen 19.04.2024).
[3] Gleicherwiesen (Thüringen), in: https://www.xn--jdische-gemeinden-22b.de/index.php/gemeinden/e-g/732-gleicherwiesen-thueringen (Öffnet in einem neuen Tab) (aufgerufen 19.04.2024); Gleicherwiesen mit Simmershausen, in: https://www.alemannia-judaica.de/gleicherwiesen_synagoge.htm (Öffnet in einem neuen Tab) (aufgerufen 19.04.2024).
[4] Helmut Eschwege, Geschichte der Juden im Territorium der ehemaligen DDR. Band II, Dresden 1991, S. 942 f.
[5] Gleicherwiesen (Thüringen), in: https://www.xn--jdische-gemeinden-22b.de/index.php/gemeinden/e-g/732-gleicherwiesen-thueringen (Öffnet in einem neuen Tab) (aufgerufen 19.04.2024); Gleicherwiesen mit Simmershausen, in: https://www.alemannia-judaica.de/gleicherwiesen_synagoge.htm (Öffnet in einem neuen Tab) (aufgerufen 19.04.2024).
[6] Alicke, o.S.
[7] Stadt Römhild (Hrsg.), Kinder, wie die Zeit vergeht… Ortschronisten berichten aus vergangenen Tagen, Juden in Simmershausen, für die Ortschronik von Simmershausen zusammengestellt von Siegfried Erbach, in: Gleichberg-Kurier Heft 1 (2015), o. S.
[8] "Regierungs-Blatt für das Herzogtum Coburg" vom 07.08.1912, S. 347; Siehe auch: "Regierungs-Blatt für das Herzogtum Coburg" vom 17.09.1913, S. 375.
[9] "Coburger Zeitung" vom 13.09.1914 und 18.11.1914.
[10] "Coburger Zeitung" vom 22.07.1915.
[11] "Coburger Zeitung" vom 25.05.1916.
[12] "Regierungs-Blatt für das Herzogtum Coburg" vom 09.12.1916, S. 812.
[13] "Coburger Zeitung" vom 21.10.1917.
[14] Helmut Wolter. Das Häuserbuch der Stadt Coburg. Bd. 7, Bärenholzweg, Baumschulenweg, Beerhügel, Bergstraße, Bertelsdorfer Weg, Blumenstraße, Brauhof, Brückenstraße, Regensburg 2010, S. 118.
[15] "Coburger Zeitung" vom 15.06.1929.
[16] Wolter, S. 118.
[17] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Ludwig, Nathan und Bella.
[18] Eva Karl, "Coburg voran!“ Mechanismen der Macht – Herrschen und Leben in der „ersten nationalsozialistischen Stadt Deutschlands“, Regensburg 2025, S. 39-172.
[19] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Ludwig, Erna Hilde
[20] Stadtarchiv Coburg: A 10396 fol.31f./35; Siehe auch: Karl: „Coburg voran!“, S.586f.
[21] Stadtarchiv Coburg, A 10396, fol. 12f., Die Kreisbauernschaft Bayreuth, Außenstelle Coburg an die Gewerbepolizei Coburg, 21.09.1935.
[22] Stadtarchiv Coburg, A 10396, unfol. Aktennotiz des Polizeiamtes vom 22. Oktober 1935.
[23] Karl, "Coburg voran!", S. 586f.
[24] Stadtarchiv Coburg, A 11291, fol. 26v, Verzeichnis jüdischer Gewerbebetriebe vom August 1938.
[25] Stadtarchiv Coburg, A 10395, fol. 29.
[26] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Ludwig, Nathan und Bella.
[27] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Ludwig, Anneliese Marka.
[28] Die Beschreibung dieses Ereignisses bei Fromm, S. 95ff.
[29] RGBl, I 1938, S. 1902.
[30] Stadtarchiv Coburg, A 11291, fol. 26v, Verzeichnis jüdischer Gewerbetriebe vom August 1938.
[31] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Ludwig, Nathan und Bella.
[32] Friedhofsamt Coburg, Verzeichnis der auf dem Friedhof der ehem. Israelistischen Kultusgemeinde vorhandenen Grabsteine u. Denkmäler, Grab-Nr. 206.
Patenschaft
Die Patenschaft über den Stolperstein von Nathan Ludwig hat Barbara Kempf übernommen.
