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Stadt Coburg

9. November 2021

Grußwort zum Gedenkweg zur Reichspogromnacht

Start am Bahnhofsplatz Coburg

Oberbürgermeister Dominik Sauerteig

Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler.
Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
sehr geehrte Damen und Herren, 
liebe Aktive unseres Netzwerks Erinnerungskultur,

mit diesen Worten von Martin Niemöller heiße ich Sie auch im Namen der Stadt Coburg und meines Kollegen 3. Bürgermeister Thomas Nowak in seiner Funktion als Kulturreferent willkommen und danke ich Ihnen allen, die Sie sich heute diesem Gedenkweg zur Reichspogromnacht anschließen wollen. Ich freue mich, dass wir damit ein klares Zeichen in die Stadtgesellschaft, in das Coburger Land und darüber hinaus senden, das sich kurz gefasst in zwei Worten zusammenfassen lässt:

#NieWieder!!!

Wir sind heute hier versammelt, weil wir es als unsere innere Verpflichtung ansehen zu warnen, dass sich die Ereignisse der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 nie nie nie wieder wiederholen dürfen. Wir wollen mit diesem Gedenkweg gemeinsam zeigen, dass es uns nicht kalt lässt, was Menschen einander angetan haben – und sicher in anderer Form auch heute noch einander antun.

Wir erklären damit gleichzeitig unseren Protest gegen totalitäres Denken und Handeln, gegen Willkür und Tyrannei, gegen jedwede Form von Gewalt, von Ausgrenzung und von Verletzung der Menschenrechte – hierzulande und überall auf der Welt.

#NieWieder!!!

Wir sind die Nachkommen jener Mitbürger, die vor zeitgeschichtlich gesehen gerade einmal 83 Jahren an millionenfachem Völkermord mitgewirkt haben. Gerade einmal ein Menschenalter ist es her, dass auch hier in Coburg mit der Reichskristallnacht die systematische Verfolgung und der brutale Mord an vielen vielen verdienten Mitbürger*innen begonnen hat.

Allein hinter der Begriffswahl der Nationalsozialisten steckt schon verlogener Zynismus: der Begriff "Kristallnacht" versucht zu suggerieren, bei diesem Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung und später viele weitere unschuldige Bevölkerungsgruppen wären lediglich Fensterscheiben zu Bruch gegangen.

Tatsächlich handelte es sich jedoch um eine vom NS-Terror organisierte Judenverfolgung, in deren Verlauf über 7000 jüdische Geschäfte, 29 Warenhäuser und 267 Synagogen zerstört wurden. Es ging also in jener Nacht viel mehr zu Bruch als nur Glasscheiben, Schaufenster und Kristallleuchter. Es wurden auch 91 Menschen ermordet. Es handelte sich insgesamt um einen Rechts- und Zivilisationsbruch, um ein Pogrom im wörtlichen Sinn, um staatlich organisierten Terror gegen jüdische Mitbürger. Es ging um eine grausame Verletzung von Menschenrechten, um einen absoluten Tabubruch.

Für mich als junger Mensch absolut unverständlich.

Ich kann nicht verstehen, wie es dazu kommen konnte. Wir können es wahrscheinlich alle nicht verstehen, obwohl inzwischen ganze Bibliotheken an Forschungsliteratur zum Nationalsozialismus entstanden sind.

Als Stadt Coburg haben wir die unabhängige und wissenschaftliche Aufarbeitung unserer höchst unrühmlichen Geschichte während des Dritten Reichs einem kompetenten Gremium anerkannter Historiker übergeben. Wir erwarten mit großem Interesse im Laufe des nächsten Jahres ihren Abschlussbericht. Nicht weil wir im Anschluss Anklage gegen irgendjemand erheben wollen. Dazu ist es viel zu spät. Sondern weil wir verstehen wollen.

Es geht zumindest mir nicht um Schuldzuweisung. Es geht zunächst um das Verstehen und das Erinnern, um das Achten und Wahren. Aber dann geht es mir als zweiten Schritt um unser aller Handeln auf Grundlage des Gelernten, um unseren aller aktiven Einsatz, dass solche Brutalität nie nie nie mehr wieder Platz findet in unserer Gesellschaft. Dass der Nazi-Mob und mit ihm jedwede Form von Radikalismus und totalitärem Regime keinen Fuß mehr fassen können. Dass wir alle in Zukunft nicht mehr wegschauen, wenn vor unseren Augen Menschen unschuldig ausgegrenzt werden und gar Gewalt an ihnen verübt wird.

Denn gerade deshalb, weil wir es noch immer nicht verstehen können, was Menschen zu diesem grausamen Genozid veranlasst hat, müssen wir uns an Tagen wie heute gemeinsam erinnern, dürfen wir nicht verdrängen. Inzwischen gibt es viele Gedenkstätten in Deutschland, die daran erinnern. Auch gar nicht weit von Coburg entfernt. Mich persönlich hat ein Besuch in Ausschwitz zum 70. Jahrestag der Befreiung im Rahmen einer Gedenkfahrt europäischer Jugendorganisationen persönlich sehr berührt. Vor Ort einen Zeitzeugenbericht von Esther Bejarano folgen zu dürfen war sehr mitnehmend. Und ihre Geschichte des Überlebens kaum zu glauben, aber doch war.

Gerade der heutige Tag lehrt es uns: Wir dürfen nicht so tun, als wüssten wir nichts. Wir dürfen nicht wegsehen. Wir müssen hinsehen und aufstehen, wenn wir auch nur die leisesten Anfänge von Ausgrenzung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus erkennen.

Meinem #NieWieder!!! vom Beginn füge ich daher ein entschlossenes #Nein!!!, #Stopp!!! und #Keinen-Schritt-Weiter!!! hinzu!

Denn ich und wahrscheinlich wir alle fragen uns doch gerade in diesen Novembertagen:

Warum hat am 9. November 1938 fast niemand eingegriffen?

Von viel zu wenigen Ausnahmen abgesehen: Warum haben die meisten weggesehen – auch in unserer Stadt, auch in unserer Heimat?

Wir – insbesondere wir als jüngere Generation - haben die Pflicht, aus der Geschichte zu lernen. Denn nur wer seine Geschichte kennt, der kann seine Zukunft gestalten. Und nur wer aus seiner Geschichte Lehren zieht, wird nicht dazu verdammt sein, dass sie sich wiederholt.

Deshalb danke ich an dieser Stelle allen, die an der Organisation und Durchführung dieser Gedenkveranstaltung mitwirken aus dem Kreis der Evangelischen Erwachsenenbildung, des Deutschen Gewerkschaftsbunds, der Initiative Stadtmuseum und vielen zumeist langjährig engagierten Privatpersonen. Namentlich nennen und danken will ich für Sie alle Pfarrer Dieter Stößlein als Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Lebendige Erinnerungskultur.

Ich hoffe, dass wir gemeinsam diese Tradition der Erinnerung auch in Zukunft aktiv weiter pflegen. Ich persönlich sichere Ihnen aus tiefster innerer Überzeugung mein solidarisches Mitwirken und die Unterstützung der Stadt Coburg zu.

Mit Ihrem und mit unser aller Kommen setzen wir ein deutlich sichtbares Zeichen gegen das Vergessen. Wir tragen gemeinsam dazu bei, die Erinnerung an ein leider sehr dunkles Kapitel der Geschichte unseres Landes und insbesondere unserer Stadt Coburg wachzuhalten, das von vielen lieber verdrängt wird.

Mit Blick auf die Aufdeckung erster Hinterleute der schändlichen NSU-Morde vor gerade einmal zehn Jahren in unserer direkten fränkischen Nachbarschaft ist dieses Zeichen heute und in Zukunft wichtiger denn je.

Aber genauso betrachte ich mit großer Sorge, welche schändliche Häme und Hetze insbesondere in den Sozialen Netzwerken mehr und mehr um sich greift. Wie Menschen, zum Teil schon Kinder, ausgegrenzt und gemobbt werden. Wie sich diese Hetzer dann oftmals sogar feige hinter Fake-Profilen verstecken. Aber auch, dass solche Hetzer inzwischen wieder als Ergebnis demokratischer Wahlen in unseren Parlamenten vor Ort in Coburger Land, im Landtag und im Bundestag sitzen.

War mein Ruf #NieWieder!!! vielleicht zu leise???

Müssen wir vielleicht viel öfter zusammenkommen und für Demokratie und Menschenrechte werben?

Das Coburger Land zeigt daher zurecht seit einigen Jahren Flagge – und zwar eine schillernd bunt farbige! Mit der Gründung des Netzwerks „Wir sind bunt: Coburg Stadt und Land“. Dieses Bündnis steht für Vielfalt und Miteinander und will deutlich machen: Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzung und Gewalt haben in Stadt und Landkreis Coburg keinen Platz!

In Coburg leben Menschen aus über 100 Nationen, an unserer Hochschule studieren junge Menschen aus aller Welt. Viele Coburger Firmen sind weltweit aufgestellt.

Das Bündnis „Coburg ist bunt“ verfügt sicherlich bereits über eine breite Basis: Vertreter aus Politik, Kirche, gesellschaftlichem Leben und Bürgern setzen sich Seite an Seite für ein buntes Coburg ein. Aber diesem Bündnis müssen wir mit Blick auf die Entwicklungen um uns herum wieder mehr Leben einhauchen. Ich weiß, dass ich, dass wir als Stadt Coburg hier auch in Verantwortung stehen.

Aber nur so kann mein Ruf von #NieWieder so laut nach außen dringen, dass er auch die gewünschte Wirkung entfaltet.

Ich danke Ihnen allen für Ihre Solidarität und Unterstützung bislang und hoffentlich auch in Zukunft.
Und ich danke Ihnen natürlich auch für Ihre Aufmerksamkeit unter diesen unwirschen Umständen heute.

Es gilt ausschließlich das gesprochene Wort!